HAMLET Reloaded –

 

Aachen, im Januar 2016: Mädchengymnasium St Ursula. –

Um es deutlich vorweg zu sagen: Die Uraufführung dieses mit besonderer Spannung erwarteten neuen Musicals hat beim Publikum in der voll besetzten Aula veritable Stürme der Begeisterung entfacht. Immer wieder brauste Szenenapplaus auf, zum Schluss konnte man die Wirkung dieser Ausnahmeproduktion nur noch im minutenlangen Stehen adäquat würdigen. Das lag sicherlich zunächst an einem gewissen William Shakespeare, der die Vorlage geliefert hat. Das lag aber auch in erheblichem Maße an der kongenialen Bearbeitung besagten Stoffs durch einen gewissen Patrick Biemans nebst Martin Ebner und deren tolle Truppe. Hier wurde nicht wie von einigen befürchtet etwa ein Nationalheiligtum geschändet, hier wurde vielmehr ein Klassiker ideenreich auf neu gebürstet – eben, wie es der zeitgemäße Zusatz zum Originaltitel des urklassischen Werks suggeriert, nachgeladen: mit neuer Energie, neuem Saft, neuer Spannung versehen.

 

Scarborough, im Dezember 1955: Boys' High School. –

Vor gut sechzig Jahren erlebte ein englischer Sextaner 'seinen' ersten Hamlet in Form einer Schulaufführung und erlag auf Anhieb der Magie dieser einmaligen Tragödie. Damals wie heute gehörte es bekanntlich zum Selbstverständnis jedes britischen Gymnasiums einmal im Jahr als Gemeinschaftsprojekt ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Und dieses Jahr war halt das wohl bekannteste Drama der englischsprachigen Welt als school play dran. Die Aufregung im Publikum ist mit Händen zu greifen. Den first-former fasziniert vor allem das Phänomen eines Protagonisten, der eben nicht durch Taten glänzt, der im Gegenteil durch sein fast zwanghaft wirkendes Grübeln daran gehindert wird, überhaupt Taten zu vollbringen. Hier dominiert die Handlung ein Antiheld, ein Mensch, der auf der Bühne laut nachdenkt, der coram publico seinen inneren Konflikt, seine ganze Unentschlossenheit und Zerrissenheit, seine Zweifel – ja, sogar seine Selbstmordgedanken freimütig offenbart, sich jedem einzelnen auch noch so unerfahrenen, unbedarften, unreifen Würmchen mitteilt. Dabei klingen diese quasi-konspirativ mitgehörten Selbstgespräche dem angehenden Teenager einerseits auf irritierende Weise vertraut – andererseits besticht die kraft- und machtvoll poetische Sprache, in die der Prinz sein Leiden am faulen Staate Dänemark gießt.

 

Jetzt sitzt der inzwischen pensionierte Gymnasiast in der Aula von St Ursula und erlebt eine zweite Sternstunde. Auch diese frisch und quicklebendig daherkommende neue Variation über das zeitlose Thema spricht ihn an. Diesen seinen bisher letzten Hamlet genießt er in vollen Zügen. Aber was genau genießt er denn?

 

Zunächst einmal die Genugtuung darüber, dass es dieser Produktion eminent gelungen ist, dem altehrwürdigen Stück neues Leben einzuatmen, ohne die uralte Theatermagie zu zerstören. Der Clou dabei: Die Erkenntnis, dass sich die dramaturgisch so zentralen Monologe Hamlets sprachlich und strukturell für eine Vertonung als Songs mit poetisch angehauchten Texten (engl. lyrics) extrem gut eignen. Einen ähnlichen Ansatz hatte vor fünfundzwanzig Jahren Nigel Kennedy, als er mit seiner erfrischend anderen Einspielung von Vivaldis Vier Jahrezeiten ein ganz neues Publikum für die klassische Musik gewinnen konnte. Dabei hatte er die Struktur des Stücks gar nicht verändert, aber einfach neu aufgefasst, und zwar nicht als vierteilig, sondern als vier mal drei Sätze, sprich; zwölf Einzelteile von jeweils drei Minuten Dauer. Das Ganze war objektiv fast genau so lang wie vorher, wirkte aber durch diese Auflockerung wesentlich kürzer. Das neue Format entsprach erstaunlich genau der Grundform des damals modernsten Tonträgers, nämlich einer CD und kam somit den Hörgewohnheiten und Aufmerksamkeitsspannen der damaligen jungen Generation sehr entgegen. Nach einem vergleichbaren Prinzip wird die Struktur von HAMLET Reloaded nicht mehr durch die klassischen fünf Akte, sondern durch die ca. fünfundzwanzig musikalischen Einlagen bestimmt. Darüber hinaus bildet ein häufig herauszuhörender, bluesiger Unterton in der Instrumentierung Hamlets seelische Verfassung eindringlich ab. Musikalität, Dein Nam' ist Biemans!

 

Und dann diese Choreographie! Glänzend konzipiert, glänzend realisiert. Ein einziger Augenschmaus. Neben der Musik eine weitere neue Dimension, die auch dazu beiträgt, die düstere Atmosphäre immer stärker zu verdichten – allerdings durch eine wieder ins Leben gerufene alte Tradition: Parallel zu den Songs erfüllt Tanz hier optisch die traditionelle dramaturgische Funktion des die Handlung kommentierenden, oft beklagenden Chors der klassischen griechischen Tragödie – derer sich auch Shakespeare zwar schon mal bedient – etwa bei Henry V, nur eben bei Hamlet nicht. Perfekt synchronisiert, die einzelnen Chormitglieder geschmeidig zu einem einzigen Lebewesen verschmolzen, was noch durch Maske und Kostüm unterstützt wird. Da sollten sich die Schrittmacher warm anziehen!

 

Überhaupt verblüfft hier wie auch schon bei den Vorgängermusicals die logistische Meisterleistung, so viele Akteurinnen so oft und so elegant-reibungslos auf die Bühne hinauf und wieder von der Bühne herunter zu holen – geschweige denn in der "Rettungsgasse" mitten durchs Publikum rein und raus zu bewegen, ohne dass irgendeine irgendwann am falschen Platz wäre? Hier wird auch besonders deutlich vor Augen geführt, welch toll koordinierte, ineinander verzahnte kollektive Leistung von der Schule gestemmt wird.

 

Über die schauspielerischen Leistungen hinaus wird auch die ganze Palette dessen aufgeboten, was die moderne digital-elektronische Welt zur Verfügung stellen kann, um die Inhalte des Stücks noch optimaler, noch eindringlicher, noch effektiver zu transportieren, dem Publikum mit allen Sinnen erfahrbar zu machen. Ganz genial gelöst wurde das im umgeformten "Stück im Stück" – als digitales Spiel am Monitor. Da konnte man sich durchaus an die beliebte Fernsehserie Sherlock mit Benedict Cumberbatch erinnert fühlen.

 

Selbst fast 400 Jahre nach seinem Tod muss sich der unsterbliche Barde von Stratford-upon-Avon überhaupt nicht im Grabe umdrehen – im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass er unterirdisch mitsingt oder -pfeift, zumindest -summt.

 

 

Dr. Peter H. Marsden